Lesedauer: 24 Minuten

Wir brauchen mehr vom Weniger

Mit weniger glücklich zu werden bedeutet im besseren Leben anzukommen

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Verzicht wird oft mit Askese gleichgesetzt oder man denkt an geizige Menschen, die sich nichts gönnen wollen. Vielleicht auch an Menschen, die sich nichts Leisten können. Dabei ist Verzicht etwas anderes: in erster Linie ist es eine Quelle für Lebensfreude, wenn wir alles, was uns belastet und einbremst ablegen können.

Wir brauchen weniger vom Mehr

Wir kommen gerade aus zwei Jahren der Corona-Pandemie, die uns noch immer in den seelischen Knochen stecken und sind direkt davon übergegangen in die Ukraine-, Russland-, Rohstoff- und Energie-Krise, während die Preise steigen, die Wirtschaft ächzt, die Demokratie herausgefordert wird und das Gesundheitssystem aus dem letzten Loch pfeift. Wir mussten plötzlich wegen eines Virus lange Zeit auf Freiheit verzichten und nun kommt auf uns noch zu, dass wir aus unterschiedlichen Gründen auf warme Wohnungen, heiße Badewannen, Urlaubsreisen, Konsumgüter, Lifestyle-Produkte, Luxus-Waren oder gar Lebensmittel verzichten sollen. Das ist für viele eine Herausforderung, für einige wird es existenziell bedrohlich, für einige wird es ein Grund, sich einen Schuldigen in der Regierung oder der Wirtschaft zu suchen und diesen niederringen zu wollen und ein paar wenige werden daran wachsen. Wir sind es nicht mehr gewohnt, auf etwas verzichten zu müssen, obwohl wir im Grunde genommen wissen, dass das zum Leben dazugehört, dass wir uns Glück nicht kaufen können und vielleicht sogar, dass weniger zu mehr Zufriedenheit und Dankbarkeit, ja sogar Gesundheit und Freiheit beitragen kann. Wenn wir wieder mit dem wesentlichen im Leben in Kontakt kommen. Mit uns selbst.

Es erscheint vielleicht paradox, etwas über Verzicht zu schreiben und sich damit zu beschäftigen, dass wir mit weniger zufriedener, gesünder und glücklicher sein sollen – wo wir doch über Jahrzehnte dahingehend erzogen worden, immer mehr haben zu können und zu sollen, da Wohlstand und Wachstum – zumindest der wirtschaftliche Wohlstand und das ökonomische Wachstum – als feste Größe und Konstante bei uns angesehen wurde. Gleichzeitig ist aber auch zu sehen, dass neben dem Markt der „klassischen“ Ökonomie, der Konsumgüter, von Lifestyle-Produkten und dem SocialMedia-Hype auch ein anderer Markt gewachsen ist, der aber ebenfalls die Gesetze der Ökonomie verfolgt. Der Markt der Entschleunigung und des Rückzuges, der Markt der Achtsamkeit und der Markt der inneren Arbeit, in dem es darum geht, dem ungebremsten und ausbeuterischen Wachstum etwas entgegen zu setzen und Einhalt zu gebieten und wo die Devise gilt: ToBe statt ToGo, SlowFood statt FastFood, Regionales statt globale Märkte, Begrenzung statt XXL, Wiederverwertung statt Wegwerfmentalität, Klimaneutralität und Nachhaltigkeit statt Ressourcenverschwendung und -ausbeutung.

Die Herausforderungen und die Entscheidungen werden immer schwieriger werden, je mehr uns zur Verfügung steht, die Konsequenzen davon werden immer weitreichender sein und die auf uns einwirkenden Krisen werden zukünftig wahrscheinlich eher mehr werden, als weniger. Das soll uns aber keine Angst machen, sondern es soll für uns eher eine Reifekammer sein, in der unser Bewusstsein dafür reifen kann, uns auch andere Denkweisen dahingehend zu erlauben, worauf es in unserem Leben wirklich ankommt und wie wir es schaffen, mit mehr vom Weniger in einem besseren Leben anzukommen.

Einfach leben, gar nicht so leicht
Einfach ist tief und nicht seicht und vielleicht
Ist es am Schwersten, es wieder zu sein
Einfach, einfach sein

Mach den Versuch wieder einfach zu sein
Ein Tisch, ein Stuhl, ein Kerzenschein
Ein Blatt Papier, zwei Herzen, ein Reim
Einfach, einfach sein

Einfach sein, auch wenn’s schwierig ist
Auch wenn die Gier noch so gierig ist
Das zu entdecken hinter dem Dunst
Einfach sein, ist die Kunst

Wie das Programm ist der Fernseher flach
Warum ist am Waldrand mein WLAN so schwach
Und jeden Tag wird er trüber mein Blick
Ich geh‘ wieder auf Los zurück

Augen zu haben fürs Abendrot
Und gute Freunde in der Not
Ja das klinkt einfach, ist aber wahr
Einfach unbezahlbar

Der Keller, die Wohnung, alles voll Zeugs
Ich steh‘ davor und beäug’s
Ist das der Wohlstand, den ich unbedingt brauch?
Fragst du dich sowas auch?

Wir fliegen zum Mars, so als ob sich das lohnt
Und leben ein Leben hinterm Mond
Sägen mit Eifer am eigenen Ast
Und eigentlich sind wir nur zu Gast

Wann sind wir einfach mal nur zufrieden
Und hören endlich auf uns zu bekriegen
Denn wenn ein Frieden für immer hält
Wie viel schöner wär‘ sie diese Welt

Unser Planet hier bietet uns an
Dass man nach dem aus, auch noch einatmen kann
Ganz einfach ganz simpel zum Leben gemacht
Für jeden ein Platz Tag und Nacht

Leg deine Maske in einen Fluss
Gib einer wildfremden Oma ein‘ Kuss
Lache mal laut in den Spiegel hinein
Beschließ einfach, glücklich zu sein

Der Münchner Kabarettist und Musiker Willy Astor veröffentlichte 2016 „Einfach sein“ und der Songtext hat mich damals schon sehr gepackt, da er für mich sehr viel Wahrheit enthält – und gleichzeitig kenne ich das Spannungsfeld in mir nur zu gut, das immer entsteht, wenn ich etwas Verführerisches, etwas Schönes, etwas Praktisches, etwas Neues oder etwas Leckeres sehe, mich das neugierig macht, das mir schmeckt, das mich und meine Wünsche befriedigt, das mich hoffentlich glücklich macht usw. und die innere Diskussion startet, ob ich das brauche oder nicht. Ich selbst bin zweifellos ein Kind der Wohlstandsgeneration – geboren 1973 – und das bis vor kurzem nicht wirklich auf Verzicht programmiert war. Das Wort „Verzicht“ war einfach in mir negativ belegt und ich war der festen Überzeugung, dass mich weniger nicht glücklich macht. Dann kamen psychische Erkrankungen und 2013 ein schwerer Unfall, ich durchlebte einige existenzielle Krisen und ich wurde vom Gegenteil überzeugt. Jetzt schreibe ich – obwohl ich mit Sicherheit kein Experte dafür bin und in meinem eigenen Alltag immer wieder vor den herausfordernden Entscheidungen stehe – einen Blog-Beitrag zum Thema Verzicht und bin mir ziemlich sicher, dass einige der Leser – so wie auch ich – bei dem Wort „Verzicht“ gleich an „Mangel“ denken und die vorher beschriebene Diskrepanz bzw. das Spannungsfeld kennen. Auf der einen Seite die Sehnsucht nach der Einfachheit und auf der anderen Seite die Versuchungen der wirtschaftsorientierten Gesellschaft. Gepaart mit den ständig auf uns einwirkenden Meldungen aus der medialen Nachrichten-Landschaft über Energiemangel, Rohstoffmangel, Arbeitskräftemangel, Krieg und Inflation einschließlich der Spar- und Verzichts-Aufforderungen, kann das in uns schon Angst und Verzweiflung hochkochen lassen – oder aber die Sehnsucht nach Veränderung schüren, die zweifellos möglich ist. Wenn wir uns dazu entscheiden. Wie singt es Willy Astor so schön: Beschließ einfach, glücklich zu sein.

In Zukunft finden wir Luxus nicht mehr im Überflüssigen, sondern im Notwendigen: in Zeit, in Ruhe, in Raum, in Aufmerksamkeit, in der Umwelt, in Sicherheit, in der Freiheit.

Einer der ersten Gedanken in Krisen oder bei Herausforderungen ist die Frage, wo denn die Chance und die Möglichkeit liegen kann und was mir diese Krise, diese Herausforderung lernen kann. Diese Denk- und Sichtweise nimmt der Überzeugung, dass Verzicht etwas Negatives ist, die Wirkung, man sieht klarer die Tatsachen und ist offener für Veränderungen. Veränderungen, die dringend notwendig sind, wenn man zu einem besseren und auch gesünderen Leben kommen möchte, und der Lebensraum für uns und unsere Nachkommen auch erhalten bleibt. Tatsachen wie beispielsweise die Entwicklung des privaten Konsums in Deutschland, die Entwicklung der deutschen Einwohnerzahl in den letzten dreißig Jahren oder die Entwicklung der psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland der letzten gut zwanzig Jahre:

Private Konsumausgaben 1991: 867 Milliarden Euro
Private Konsumausgaben 2021: 1,718 Billionen Euro
Steigerung um gut 98%
Quelle: Statista

Einwohnerzahl in Deutschland 1991: 80,27 Millionen
Einwohnerzahl in Deutschland 2021: 83,24 Millionen
Steigerung um etwa 3,7%
Quelle: Statista

Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischer Erkrankungen 1997: 100 Tage / 100 VJ
Arbeitsunfähigkeitstage wegen psychischer Erkrankungen 2019: 339 Tage / 100 VJ
Steigerung um 239%
Quelle: DAK

Es ist Tatsache, dass der Konsum überproportional zugenommen hat. Mit negativen Folgen für die Erde, das Klima, unserer Gesundheit, unseres Wohlbefindens, unserer Zufriedenheit und unserer Widerstandskraft. Der Philosoph Hans M. Enzensberger schrieb 1996 über den Luxus der Zukunft: „Knapp, selten, teuer und begehrenswert sind in Zeiten des wuchernden Konsums nicht schnelle Automobile und goldene Armbanduhren, Champagnerkisten und Parfüms, Dinge, die an jeder Straßenecke zu haben sind, sondern elementare Lebensvoraussetzungen wie Ruhe, gutes Wasser und genügend Platz. Merkwürdige Verkehrung einer Logik der Wünsche: Der Luxus der Zukunft verabschiedet sich vom Überflüssigen und strebt nach dem Notwendigen.“ Nochmal zum in-sich-wirken-lassen: Diese Aussage stammt aus dem Jahr 1996, als das Internet noch kaum User hatte, als Amazon noch relativ unbekannt war, als es noch acht Jahre bis zur Facebook-Gründung dauerte und elf Jahre bevor das erste iPhone auf den Markt kam – alles Dinge, die unser Konsumverhalten und die damit verbundenen Folgen massiv beeinflussten und es noch immer machen. Wir konsumieren so viel, wie nie zuvor, wir verbrauchen so viele Ressourcen wie noch nie zuvor und die Zahl der Krankentage aufgrund psychischer Probleme ist so hoch wie nie zuvor. In all dem materiellen Überfluss und der Fülle an Möglichkeiten (die derzeit vielleicht gerade eine kleine Delle erfahren) sind wir im Mangel an essenziellen Dingen: an Zeit, an Ruhe, an Raum, an Aufmerksamkeit, an Sicherheit, an Freiheit, an Verbindung und Verbundenheit, an Bewusstheit für uns selbst, für uns alle, für die Umwelt.

Sehnsucht nach Veränderung

Dieser Mangel ist irgendwie in uns spürbar, wir hören und fühlen diesen auch in uns mehr oder weniger intensiv: „Pause! Bitte bitte Pause!“ und wenn uns nur einmal die Zeit dafür gönnen, ist es nur ein kurzer Moment, bevor die Stille wieder scheinbar schreiend unerträglich wird und wir wieder im WorldWideWeb, in die SocialMedia-Kanäle, in die online-Shops, in die Arbeit, in Essen, in Alkohol, in den Einkaufszentren etc. abtauchen und versuchen, diese brennende Sehnsucht nach unseren Grundbedürfnissen in uns irgendwie zu kompensieren. Das Paradoxe dabei ist: eigentlich spüren und wissen wir instinktiv sehr genau, was uns gut täte und was wir wirklich bräuchten, um uns wieder mit uns selbst und unserer Mitte verbinden zu können. Ab und zu machen wir dies vielleicht auch, nehmen uns eine Auszeit, machen eine Fasten-Kur, begeben uns auf eine Einkehr/eine innere Reise durch Meditation oder Kontemplation, misten zuhause aus, gehen pilgernd zu heiligen Orten oder wandern durch die Wüste und erleben dann, wie es ist, wenn die getriebene Seele in der Entschleunigung zu heilen beginnt, weil wir – freiwillig – die Entscheidung getroffen haben, auf einiges was wir haben und machen zu verzichten und einfach nur sein zu dürfen. Wie in dem Lied von Willy Astor. Doch danach beginnen die scheinbar übermächtigen Kräfte des Alltags wieder zu wirken, die guten Vorsätze aus dieser Aus-Zeit verschwinden immer mehr und wir drehen uns bald wieder im fremdbestimmten und durchgetakteten Hamsterrad, bestehend aus Verpflichtungen, Sachzwängen, Konkurrenz- und Wettbewerbsdenken, Gier und/oder Statussymbolen. So scheinen wir hin und her zu hüpfen – zwischen Konsum und Sehnsucht, zwischen Haben oder Sein, dem Buchtitel von Erich Fromm, dessen Assistent Rainer Funk sagte: „Der am Haben orientierte Mensch bedient sich – um es in ein Bild zu bringen – immer einer Krücke statt der eigenen Füße….“. Dieser zerstörerische Kreislauf läuft oft ein ganzes Leben lang oder aber es kommt zu einem wirklichen Neuanfang, weil uns eine persönliche oder auch gesellschaftliche Krise dazu bringt, dass wir das Zuviel in unserem Leben abbauen und wieder den Fokus auf das Wesentliche legen: auf Zeit, auf Ruhe, auf Raum, auf Freiheit, auf Verbundenheit – je nachdem was man persönlich darunter versteht – und die Entscheidung treffen, auf einiges zu verzichten um in einem besseren Leben anzukommen. Auf achtsame Art und Weise werden wir das auch schaffe und ein Schritt dazu kann sein, über die folgenden Impulse nachzudenken und diese in sich wirken zu lassen.

Verzicht auf Zeitoptimierung und das „Nebenbei-mal“

Kein Produkt symbolisiert für mich die Hast, Eile, den Stress und die Unachtsamkeit bzw. Unbewusstheit unserer Zeit und unserer Gesellschaft so sehr, wie der Kaffeebecher ToGo – auch wenn er mittlerweile als umweltschädlich verschrieen und verpönt ist. Insgeheim aber wird er immer noch überall angeboten, wenn auch mit Begriffen wie „recycelt“, „aus Meeresplastik“ oder „100% kompostierbar“ kaschiert, damit er dem Trend der Nachhaltigkeit und des GreenWashing gerecht wird.

Allerdings geht es in diesem Abschnitt nicht um Umweltschutz oder Müllberge, sondern um Verzicht. Speziell hier um den Verzicht auf die Neben-bei-mal-Mentalität, die auch ich sehr gut von mir selbst kenne. Und das, obwohl ich mit Sicherheit kein Marathonläufer bin, der seine Energiereserven zwischendurch auffüllen muss, um sein Ziel zu erreichen. Nebenbei mal schnell…einen Kaffee trinken, ….die Emails checken, ….während der Autofahrt was essen. Es geht ja und mann kann viel mehr aus seiner Zeit machen. Dieses Phänomen beschreibt die Optimierung der Zeitressourcen, das dazu führt, dass wir nicht mehr aufmerksam und bei der Sache sind, dass wir in Richtung eines Lebens der Beiläufigkeit unterwegs sind und wir uns selbst in einen gesundheitsschädlichen Stress-Zustand versetzen. Auch wenn wir dies selbst nicht bemerken, reagiert unser Körper darauf und schaltet in den uralten Flucht- oder Kampf-Modus um. Was wiederum langfristig unserer Gesundheit noch mehr abträglich ist. Ganz zu schweigen davon, dass ein Kaffee in Ruhe in einem Café aus einer Porzellantasse mit Zeit auch für unsere Sinne ein unglaublich schönes Erlebnis ist, das auch noch mit dem, der Gesundheit zuträglichen Glückshormon Dopamin als Sahnehäubchen belohnt wird. Nur funktioniert das nicht nebenbei, sondern bewusst, wir genießen den Kaffee intensiver und stellen dann auf der Kreditkartenabrechnung fest, dass sich unser Konsum deutlich verringert hat, wenn wir auf die ToGo-Variante verzichten, deren Verzehr wir – wenn wir ehrlich sind – oft nicht mal wahrnehmen. Übrigens gilt das nicht nur für Kaffee, sondern auch fürs Essen. Auch hier kommen wir oft auf 10 Mahlzeiten pro Tag, wenn wir während der online-Nachrichten frühstücken und die Aufmerksamkeit mehr auf dem Display als auf dem Teller gerichtet ist oder wir schnell mal nebenbei im Büro in die Süßigkeiten-Schale auf dem Tisch der Kollegin greifen – als kleine Zwischendurch-Belohnung für den Stress auf der Arbeit oder als Trostpflaster für unsere Sorgen und unserem Frust. Hier gilt es noch achtsamer zu sein, denn die Süssigkeiten oder das Essen allgemein kann und darf niemals eine Kompensationsquelle für unerfüllte Wünsche und Bedürfnisse von uns sein.

Achtsamkeit ist hier ein sehr wirkungsvoller Ansatz und auch eine gesundheitsfördernde Haltung in unserem Leben. Sie besteht in einem vorurteilsfreien, freundlich-offenen Wahrnehmen und Anerkennen dessen, was gerade ist und ohne es verändern zu wollen. Was mache ich Hier und Jetzt gerade und wo bin ich Hier und Jetzt gerade? Hier und Jetzt – nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft und auch nicht nebenbei mal.

Was ist der Löwe von Beruf? Löwe ist er. Löwe!
Der Fuchs ist Fuchs, das ist genug. Möwe ist die Möwe.
Was ist der Mensch? Fabrikarbeiter, Schüler, Chefarzt, Fahrer.
Was du auch seist – im Hauptberuf sei Mensch, ein ganzer, wahrer.
(Josef Guggenmos)

Dieses Gedicht ist mir eingefallen, während ich den Beitrag geschrieben habe und beim Thema der Zeit- und Selbstoptimierung mir dachte, dass wir vor lauter Leistungsdenken das einfach (Mensch) sein wegoptimiert haben. Auf das Mensch-sein mit allem, was dazugehört und mit allem, was uns ausmacht dürfen wir aber nicht mehr verzichten, sondern wieder dorthin zurückkommen. Voll und ganz und nicht nur nebenbei.

Verzicht auf Grenzen-Losigkeit und das „ich-sag-nein-zu-mir“

„Ein Indianer kennt keinen Schmerz“, „Sei immer brav, freundlich und nett“ oder „Ich muss perfekt sein“ sind Glaubenssätze und feste Überzeugungen, die in vielen von uns wirken und die viele von uns beeinflussen. Leider nicht zum Guten und leider oft unbewusst. Der Samen für diese Glaubenssätze und Überzeugungen wurde meist in der Kindheit gelegt und damit sie sich zu unseren inneren Antreibern entwickeln können, ist der Dünger für diesen Samen das Gefühl der Angst. Angst zu versagen. Angst keine Zuwendung mehr zu bekommen. Angst nicht mehr gemocht zu werden. Angst nicht gut genug zu sein. Angst nicht geliebt zu werden. Sie schlagen unsere tiefsten kindlichen – und auch erwachsenen – Grundbedürfnisse an: die Sehnsucht und den Wunsch nach Anerkennung, nach Zuwendung und nach Liebe.

Dazu kommt, dass unser Gehirn noch lange nicht voll und ganz in der modernen und leistungsorientierten Gesellschaft angekommen ist, sondern die ganze Evolutions-Geschichte noch sehr präsent ist. Die Geschichte, in der wir als kleine Clans der wilden Natur ausgeliefert waren und nur durch den Zusammenhalt und der Zusammenarbeit des Clans konnten wir die Säbelzahntiger und die Eiszeiten überleben. Da musste man sich selbst zurücknehmen, sich selbst fast schon verleugnen und Aufopferungsbereitschaft zeigen, damit die Gene weiterleben. Denn wer vom Clan ausgegrenzt und ausgestoßen wurde, war schon so gut wie tot.

So scheint es fast schon ein reflexhafter Zwang zu sein, immer JA zu sagen, wenn wir um Hilfe gebeten werden, wenn wir zusätzliche Aufgaben übernehmen sollen, wenn wir trotz der Erschöpfung zu einem Treffen eingeladen werden, wenn wir für den Nachbarn in den Stoßzeiten einkaufen sollen oder wenn wir um etwas Unangenehmes gebeten werden. Diese Aufzählung ließe sich sicherlich noch lange erweitern, ohne dass das JA zu uns selbst auftaucht. Und damit das NEIN zu den anderen, denn wir wollen sie nicht enttäuschen. Dabei wäre diese Enttäuschung der anderen durchaus hilfreich, denn es ist auch ein Zeichen für ein gutes Maß an Selbstachtung und Selbstfürsorge, was wiederum eine optimale Voraussetzung für ein soziales Engagement und soziale Kompetenz darstellt. Wir sollten uns bewusst machen, dass wir nicht die emsigen Arbeitsbienen für andere sind, es sei denn, wir entscheiden uns ganz gezielt und klar dazu. Aber nicht, um die Anerkennung, die Zuwendung, die Liebe, die wir in der Kindheit nicht bekommen haben uns auf diese Art und Weise verdienen zu wollen, sondern weil es uns ein Bedürfnis ist zu Helfen, weil es unseren Werten, unserer Einstellung und unser Haltung im Leben entspricht und vor allem, weil wir für unsere seelischen Verletzungen und für die Heilung unseres inneren Kindes selbst die Verantwortung übernehmen, anstatt diese in andere Hände abzugeben. Das ist in keinster Weise egoistisch, sondern ein Zeichen für Selbstachtung und Unabhängigkeit und wir laufen nicht Gefahr uns zu überfordern und uns selbst zu vergessen.

Verzicht auf Vergleich und das „Will-ich-auch-haben-oder-werden“

Ich persönlich bin gegenüber Tierversuchen sehr skeptisch eingestellt und gleichzeitig finde ich diese, von den Verhaltensforschern Frans de Waal und Sarah Brosnan von der Georgia State und Emory University in Atlanta im Jahr 2003 durchgeführte Experiment über das Fairness- und Gerechtigkeitsempfinden von Kapuzineraffen sehr hilf- und lehrreich. Es hat den Forschern gezeigt: Auch Affen haben ein Gefühl für Gerechtigkeit und eine Vorstellung von Fairness. Bei dem Versuch im Video wurde ein Kapuzineraffe gezielt ungerecht behandelt, um herauszufinden, wie er darauf reagiert. Beide Tiere hatten gelernt, mit dem Experimentator zu handeln: Ein Leckerbissen kostet einen Stein. In einigen Versuchen erkauften sich die Tiere gleichermaßen Gurkenscheiben. Damit waren sie zufrieden – sie mampften beide brav die Gurken. Ganz anders allerdings beim Experiment im Video. Hierbei bekam der rechte Affe die besonders leckeren Trauben während der linke weiterhin die vergleichsweise faden Gurken erhielt. Das ließ sich der Benachteiligte nicht bieten: Er warf die Gurkenscheiben empört der Forscherin entgegen und randalierte vor Zorn. Wenn die Wissenschaftler dieses Video bei Präsentationen einem Publikum zeigten, gab es stets lautes Gelächter – denn das Verhalten des Affen erscheint uns in kurioser Weise erstaunlich menschlich. Hier können Sie das Video anschauen.

Solange beide Affen gleich behandelt wurden, war alles in Ordnung, denn sie mögen Gurken wirklich gerne. Erst als einer der Beiden etwas Besseres bekommen hat, war der Andere plötzlich nicht mehr zufrieden und die Gurke mutierte vom Leckerbissen zum Wegwerfobjekt, es kippt die Stimmung von Zufriedenheit in Neid und Aggression und die Vorfreude weicht dem Argwohn – obwohl kurz vorher, als wir noch nicht wussten, dass es auch Weintrauben gibt, noch alles in bester Ordnung war. Der Andere wird bevorzugt und bekommt etwas viel Besseres – diese innere Bewertung von uns schreibt das Drehbuch für einen miesen Tag, für schlechte Träume und wenn es ganz arg kommt, auch für ein besch…eidenes Leben voller Unzufriedenheit, das uns stets dazu antreibt, um das zu bekommen, was der Andere hat oder ist. Natürlich ist es gut, motiviert zu sein, sich Ziele zu setzen und das Erreichen dieser Ziele anzustreben. Allerdings sollen das unsere eigenen Ziele sein und nicht aus dem Vergleich mit anderen oder äußeren Einflüssen mit den damit einhergehende inneren Bewertungen von uns entstehen. Wenn wir solchen „falschen“ Zielen hinterher jagen, werden wir niemals satt sein, denn es gibt immer jemanden oder etwas, das wir als besser, erfolgreicher oder schöner einordnen und wieder und wieder zu erreichen versuchen. Diesen Kreislauf der nie erreichbaren Karotte an der Angel, die von der Konsum-Wirtschaft, der Werbeindustrie oder von Influencern gehalten wird, können wir nur selbst unterbrechen und aus dem Vergleichen aussteigen. Auch hier ist Achtsamkeit ein guter Trainer, denn den kompletten Ausstieg aus dem Vergleichen schaffen nur die Wenigsten. Es geht darum, sich dessen bewusst zu werden, wann uns ein Vergleich negativ beeinflusst und uns dann dazu entscheiden, eine andere Richtung einzuschlagen. „Was kann ich?“ und „Worin bin ich gut?“ Sind hierzu Fragen, auf die wir Antworten finden sollten und die uns zu unseren Stärken leiten – immer dann, wenn wir bei anderen etwas sehen oder von aussen Einflüsse auf uns wirken und sich in uns dadurch Unzufriedenheit breit machen will.

Eng mit dem Vergleich ist der Drang nach Selbstoptimierung verbunden. Was muss und kann ich machen, um möglichst perfekt zu sein? Kein Mensch ist ohne Fehler, ohne Schwächen, ohne Zweifel, ohne Unsicherheit und doch versuchen wir, uns dahingehend selbst zu optimieren und diese Dinge zu kaschieren und arbeiten daran, sie aus unserem Leben zu verbannen. Warum? Ich habe keine Ahnung, sondern kann nur vermuten, dass auch das mit unserer persönlichen und gesellschaftlichen Konditionierung und Erziehung zusammenhängt, in der Leistung als Maßstab für Erfolg und Stärke gilt. Die Schattenseite ist aber, dass das verdrängen der in unseren Augen schwachen Seite uns von den Mitmenschen distanziert und wir dadurch einsam(er) und auch kranker werden. Der amerikanische Arzt Dean Ornish berichtet in seinem Buch „Love and Survival“ über die wissenschaftlichen Hintergründe der Heilkraft der Liebe, Geborgenheit und menschlichen Zuwendung. Viel wichtiger als die Frage, wie ich mich selbst optimieren kann, wäre folglich die Frage, was denn passieren würde, wenn ich mich mit meinen Macken und Schwächen ver- und aussöhnen könnte und wie sie mir vielleicht sogar nützlich sein könnten. Dann würde dem Drang nach Selbstoptimierung schnell die Luft ausgehen und wir würden gelassener, zufriedener und ruhiger den Alltag erleben.

Verzicht auf Gier und das „wir-ham-noch-lange-nicht-genug“

Eine etwas modifizierte Geschichte meines Zen-Meisters, die er mir mal beim Bogenschießen erzählte – zugegeben: nicht ganz grundlos: „Es war einmal ein westlicher Professor der Philosophie. Er reiste zu einem Zen-Meister, um ihn nach Gott, der Unendlichkeit, der Meditation und vielem anderen zu befragen.

Der Meister hörte sich schweigend all die Fragen des Mannes an.

Nach einer Weile sagte er: “Du hast eine weite Reise hinter dir und du siehst müde aus. Ich werde dir eine Tasse Tee machen.”

Während der Meister den Tee zubereitete, brannte der Professor vor Ungeduld. Er war schließlich nicht zum Teetrinken gekommen, sondern um Antworten auf alle seine Fragen zu bekommen! Wahrscheinlich war dieser Zen-Meister gar kein weiser Mann und wollte nun nur Zeit gewinnen. Sollte seine Reise gar umsonst gewesen sein?

Und als er schon fast am Aufstehen war, kam der Meister mit dem Tablett, auf dem der frisch gebrühte Tee stand. So entschied der Professor, den Tee zu trinken und erst dann zu gehen.

Der Meister nahm die Kanne und begann dem Professor Tee in seine Tasse einzuschenken. Schnell war die Tasse voll und der Tee lief über den Rand und über die Untertasse.

“Halt, Sie Narr! Was tun Sie denn da? Sehen Sie denn nicht, dass die Tasse voll ist? Und dass auch die Untertasse bereits übergelaufen ist?”

Da lächelte der Meister und sprach: “Und genau so ist es mit dir. Dein Verstand ist wie diese Tasse: überfüllt mit Fragen. Selbst wenn ich dir Antworten geben würde, hätten sie gar keinen Platz mehr in deinem Kopf, denn es passt dort genauso wenig hinein wie in diese Tasse. Geh also und leere deine Tasse. Und komm wieder, wenn Platz in dir ist.”

Viele merken gar nicht mehr, wie voll ihre Tasse schon ist und packen sich immer noch mehr da rein. Oder versuchen das zumindest. „Es geht schon noch“ oder „Das will ich auch noch machen“ sind dabei oft genannte Sätze und wir übersehen dabei die körperlichen Anzeichen, die schon vorhanden sind. Schlaflosigkeit, Müdigkeit, grundloses Schwitzen, Herzrasen, Appetitverlust oder Heißhunger-Attacken, um nur einige Beispiele dafür zu nennen. Insgeheim fühlen wir uns überfordert und möchten am liebsten auf eine einsame Insel – für eine gewisse Zeit aber bitte nur. Denn dann wollen wir wieder etwas – besser gesagt: möglichst viel – haben, besitzen, erleben, erfahren, machen, tun und abarbeiten, sonst macht das Leben keinen Sinn. Das funktioniert nur, wenn man möglichst viel gleichzeitig erledigen kann, wozu wir ja scheinbar fähig sind. Wir multitasken und wundern uns, dass wir immer weniger in uns aufnehmen können, wir nur noch oberflächlich die Informationen verarbeiten können und unsere denk- und merkfähigkeit rapide an Kapazität einbüßt.

Um etwas in unserem Leben zu verändern und zu verbessern ist der erste Schritt, die Entscheidung zu treffen, dass man den Blick nach innen richtet, dabei erkennt, dass unsere Tasse randvoll ist – ja vielleicht schon überläuft und es erstmal Platz und Raum braucht, für etwas Neues, Gesünderes und Besseres. Neue Impulse und Anregungen brauchen Zeit, um sich zu setzen und Raum, um in uns und durch uns wirksam werden zu können. Sich in einer Zeit und in einer Gesellschaft der Leistungs- und Informations-Völlerei ganz bewusst solche Leer-Räume zu schaffen ist ein Akt der Selbstliebe und der Lebens-Zugewandtheit und durch dieses zwischenzeitliche Weniger, durch Pausen und Rückzug entsteht ein klarer Blick auf die Welt und die absolute Hinwendung zum Leben.

Verzicht auf Unklarheit und das „ich-entscheide-mich-nicht“

„Alles beginnt mit (d)einer Entscheidung!“ – das ist einer meiner Hauptsätze im Leben und wer bei mir im Coaching, im Mentoring oder auf einem Seminar/Workshop/Vortrag war, wird diesen Satz vermutlich des öfteren gehört haben. Sich zu entscheiden bringt Klarheit und Sinn in unser Leben und es erfordert ein – je nach Tragweite der Entscheidung – mehr oder weniger hohes Maß an Mut, Kompetenz und Pragmatismus von uns. Mit jeder Entscheidung, die wir treffen, übernehmen wir wieder ein Stück mehr Verantwortung für uns und unser Leben, denn wir sagen JA zu einer Möglichkeit und sagen damit NEIN zu den vielen anderen Optionen. Zugegeben kann das durchaus schmerzhaft sein, wenn wir auf teils verlockende Alternativen verzichten. Gleichzeitig ist es aber auch ein Zeichen seelischer Gesundheit, denn wir nehmen das Ruder unseres Leben in die Hand und gestalten mit jeder Entscheidung unser Leben und unsere Wirklichkeit selbst und nur so sind wir dazu fähig, der Vielfalt des Lebens zu begegnen.

Mit jeder von uns getroffenen Entscheidung formen und schärfen wir auch unsere Persönlichkeit. Dabei ist es wichtig, zu akzeptieren, dass es Dinge gibt, die sich nicht verändern lassen und auch immer im Auge zu haben, dass es die Entscheidung und somit auch den (vorgezeichneten) Lebensweg nicht gibt. Das würde uns unserer Gestaltungsmöglichkeit und damit auch unserer Wirksamkeit und Lebendigkeit berauben. Ohne diese Wirksamkeit und dem Ergreifen der Möglichkeiten, unser Leben durch Entscheidungen zu formen, würde dieses Leben Schritt für Schritt verkümmern und erstarren. Genau das passiert aber, wenn wir Entscheidungen immer weiter hinauszögern oder uns nicht entscheiden können oder wollen: unser Leben bleibt unverbindlich und wir nehmen uns selbst die Möglichkeit, aufrecht auf ein sinn- und glück-erfülltes Leben, das wir selbst gestaltet haben, stolz sein zu können.

Unter diesen Gesichtspunkten kann man das Thema Verzicht vielleicht und hoffentlich mit anderen Augen sehen. Sich für etwas zu entscheiden bedeutet immer, auf anderes zu verzichten. Auf etwas anderes, das uns davon ablenken und daran hindern möchte, dass wir ein ehrliches und authentisches Leben als wir selbst führen. Auch wenn das bedeutet, dass wir uns fürs verzichten entscheiden müssten.

Verzicht auf Anspruchsdenken und dem „ich-erwarte-aber-dass…“

Sie haben bis hierher alles gelesen, was ich bislang geschrieben habe und sind mehr oder weniger damit einverstanden oder vielleicht hat auch das eine oder andere in ihnen etwas ausgelöst, oder? Ganz platt gesagt, war bisher viel davon die Rede, wie wir unsere Welt durch Verzicht verändern und schöner gestalten und wie wir unserem Leben unseren Stempel aufdrücken können, oder? Jetzt machen wir mal das, was der österreichische Neurologe und Psychiater Frankl – der übrigens im Holocaust und in vier Konzentrationslagern auf alles verzichten musste und dessen erste Ehefrau und Ursprungsfamilie dort starben – die kopernikanische Wende nennt und stellen unsere Einstellung komplett auf den Kopf: Nicht wir sind es, die dem Leben unsere Fragen stellen und unsere Vorstellungen diktieren, sondern das Leben stellt uns die Fragen – oder stellt uns vielleicht sogar infrage – und gibt uns die Rahmenbedingungen vor. Welchen Einfluss hatten sie beispielsweise darauf, wann sie gezeugt wurden, wo sie geboren wurden oder wann ein uns nahestehender Mensch aus unserem Leben scheidet? Keinen – ausser dem Einfluss, wie wir uns darauf einstellen und was wir daraus machen. Das können wir jederzeit entscheiden. Und dieses „jederzeit“ ist auch das, was Viktor Frankl mit dem Perspektivwechsel meint: Das Leben stellt uns jeden Moment die Frage: Was willst Du jetzt mit mir, dem Augenblick, machen? Wenn wir diese Frage in uns hören oder spüren, ist ein Verzicht auf die Ansprüche und Erwartungen, die wir naturgemäß haben und die sich als die Quelle für Unzufriedenheit und anderen „schlechten“ Gefühlen darstellen, unumgänglich. Mit dem Verzicht auf die Ansprüche und dem Einnehmen einer offenen, neugierigen Haltung gegenüber dem lebendigen Moment der Gegenwart und im Hier und Jetzt, würden wir eine Menge gewinnen. Diesen Weg zu dieser Lebenseinstellung und Haltung einzuschlagen, ist natürliche mit persönlicher Arbeit an sich selbst verbunden. Dass es sich aber lohnt, wenn wir unser Anspruchsdenken und Erwartungshaltung dem Leben gegenüber aufgeben und wir auf das Schicksal unsere eigenen Antworten finden, können wir an Menschen wie Viktor Frankl, Nelson Mandela, Mahatma Gandhi, Martin L. King etc. sehen.

Im Abschnitt über den Verzicht auf Grenzen-Losigkeit habe ich die Begriffe des inneren Kindes und der Glaubenssätze verwendet. Wenn uns diese im Erwachsenenalter noch immer im Griff haben und steuern, weil wir beispielsweise daran festhalten, dass uns ein gerechter Ausgleich oder eine Entschädigung für Schicksalsschläge, Herausforderungen, seelische Verletzungen etc. zusteht, befinden wir uns relativ schnell in einer Opferrolle. Auch hier wäre – nachdem diese seelischen Verletzungen uns bewusst wurden und der Heilungsprozess fortgeschritten ist – ein bewusster Verzicht auf das Erwartungs- und Anspruchsdenken sinnvoll und lebens- und gesundheitsfördernd, wenn daraus Akzeptanz entsteht: Ja, es war schlimm. Ja, es war ungerecht. Ja, es ist vorbei. Ja, ich hatte darauf keinen Einfluss. Mark Twain schrieb dazu: „Narben erinnern uns an das Erlebte, aber sie definieren nicht unsere Zukunft.“ Der Abschied von der Opferrolle und die damit einhergehende Verantwortungsübernahme für uns selbst und unser Leben gibt uns unsere Entscheidungs-, Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit wieder zurück, fördert unsere seelische Gesundheit und unsere Resilienz.

Der Weg zu dieser Einstellung führt über die Achtsamkeit. Es ist irgendwie paradox, dass derzeit einerseits Achtsamkeit scheinbar zum Trend geworden ist und boomt und andererseits die persönliche und gesellschaftliche Unachtsamkeit, das Anspruchsdenken und die Erwartungshaltungen immer mehr um sich zu greifen scheinen. Sei es jetzt in der Erwartung, dass der Staat immer einspringt oder der Anspruch, seine Meinung kundtun zu müssen, indem wir uns auf die Straße kleben und damit andere blockieren. Oder aber in Kauf nehmen, dass wir anderen unseren Willen aufzusetzen und überzustülpen versuchen – im Kleinen, wie im Großen. Der amerikanische Achtsamkeitspionier Jon Kabat-Zinn sagte einmal: Aus Sicht der meditativen Traditionen leidet unsere gesamte Gesellschaft am „ADHS-Syndrom“. Ein Miteinander funktioniert allerdings nur, wenn unterschiedliche Sichtweisen nebeneinander sein dürfen, miteinander gesprochen wird, jeder zu Kompromissen bereit ist und aus dem „das steht mir aber zu“ und „das muss so sein und werden“ ein „So ist das jetzt“ und „Was machen wir daraus“ wird. Mit dem Verzicht auf unsere Ansprüche und Erwartungen würde eine Menge Energie frei, die wir für die Lösung der persönlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen sinnvoller einsetzen könnten, als für den Kampf zur Durchsetzung von diesen.

Verzicht in der Krise und auf das „ich-will-wieder-in-das-gewohnt-bequeme-Normale-zurück“

Ende Januar 2020 ist etwas Wirklichkeit geworden, was wir bislang nur den Horror-Phantasien von Drehbuch-Autoren zugeordnet hätten: Ein Virus verbreitet sich weltweit, von jetzt auf gleich wurden ganze Länder dicht gemacht und den Menschen vieles abverlangt. Ende Februar 2022 wurde dann ein Angriffs-Krieg gestartet und ein unabhängiges Land überfallen – zwei Flugstunden von Deutschland aus. Wir werden mit etwas konfrontiert, was wir uns nicht vorzustellen wagten und auf das wir nicht vorbereitet sind. Tod und Leid bekommen plötzlich ein Gesicht, die Folgen von unterbrochenen Lieferketten, von Personalmangel oder von ständig steigenden Preisen sind eingeschränkte Verfügbarkeiten von Waren und (Dienst-)Leistungen. Unsere Grundbedürfnisse nach Sicherheit, nach Zugehörigkeit, nach Nähe und Liebe, nach Halt, nach Selbstbestimmung oder nach Freiheit werden beschnitten und müssen sich etwas anderem unterordnen und wir müssen uns, ob wir wollen oder nicht, mit all diesen Themen auseinandersetzen. Bislang habe ich über das Verzichten wollen geschrieben. Jetzt geht es um das Verzichten müssen und das unterscheidet sich wesentlich vom freiwilligen Verzicht. Schnell entstehen Ärger und Unmut, die verschiedensten Ängste werden hochgespült, Ungewissheit und Befürchtungen werden ausgelöst – was alles ganz normal ist! Wir sind Menschen und keine Maschinen, das sollte uns bewusst sein! In irgendeiner Form wird dabei unser Reptiliengehirn aktiviert und sozusagen unser Überlebensmuster aktiviert, das drei Kanäle / drei Möglichkeiten kennt:

Flucht und weg von dem Gefährlichen: Bei Corona hat das nicht funktioniert, da das Virus weltweit grassierte. Flucht kann aber auch sein, dass man es sich schönredet, nicht ernst nimmt oder die Gefahr überspielt – was man gesehen hat, wenn Behauptungen aufgestellt wurden, dass es sich nur um eine Grippe handelt, während sich in Bologna die Krankenhäuser und leider auch die Krematorien überfüllten.

Angriff und jegliche Form von Kampf, Aggression, Ärger, Hass und Wut. Auch das kennen wir zu genüge und darüber wurde und wird tagtäglich berichtet. Hier ist auch die Suche nach einem Schuldigen für die Misere zu sehen, auf den wir unsere negativen Gefühle projizieren und als Sündenbock für unsere eigene Unzulänglichkeit, Verzweiflung, Ohnmacht herhalten muss. Noch dramatischer ist es, wenn als Ventil die eigene Familie, die Kinder, die/der Partner/in herhalten muss und sich die Aggression der eigenen seelischen Misere sich and Unschuldigen und Schwächeren entlädt.

Sich-Totstellen, das Nicht-fühlen-wollen und die Betäubung der, durch die Krise, das Ereignis, dem äußeren Einfuss entstehenden Gefühle und Emotionen. Hier liegt auch sehr oft der Ursprung der Süchte. Sei es jetzt Essen, Alkohol, Zigaretten, Spielen, Sex, Zocken, Kaufrausch oder der Konsum von harten Drogen und psychedelischen Rauschmittel, sind Wege, die Realität und die Wirklichkeit aus GEFAHR für einen Moment auszublenden. Auf kosten für die langfristige Gesundheit und Lebensqualität. Sich-Totstellen kann aber auch sein, wenn man innerlich abschaltet und wegdriftet – beispielsweise aus einem unangenehmen Gespräch und auf kosten der Zugehörigkeit und Verbindung zu anderen Menschen.

Nochmal sei gesagt, dass dies ganz normale Mechanismen für unser Gehirn sind und auch die dabei auftretenden und belastenden Gefühle vollkommen in Ordnung sind. All das ist ein Ausdruck dafür, dass unser Überlebensinstinkt und Überlebenswillen sehr gut ausgeprägt ist und funktioniert. Es darf nur nicht so weit kommen, dass wir sie auf schädliche Art und Weise ausagieren. Sei es jetzt schädlich für uns selbst, für das nahe Umfeld oder für die Gesellschaft und Gemeinschaft vieler Menschen. Ein achtsamer Lebensstil unterstützt uns auch hierbei und stärkt dabei wesentlich unsere seelische Widerstandskraft oder auch Resilienz (hier der Link zu einem Blog-Artikel dazu) genannt, die sehr wichtig ist, Krisen und Herausforderungen unbeschadet zu widerstehen. Als erstes gilt es zu bemerken, wann wir in einen Krisen-Modus umschalten und in uns die zuvor aufgezählten Überlebens-Muster aktiviert werden. Schon allein dieses Wahrnehmen und Erkennen unserer Alarmzentrale bringt Entspannung in die Situation, einen klareren Blick auf die Tatsachen und gibt uns vor allem Eines: die Möglichkeit auf eine Entscheidung dahingehend, was wir mit der Situation, dem Ereignis, dem Einfluss – das, was geschieht und ist und das nunmal so ist wie es ist – machen und wie wir angemessen darauf reagieren und handeln können. Das ist das, was wir aktiv beeinflussen können und erstmal hilft uns dabei die Akzeptanz und der Blickwinkel, dass Krisen und Herausforderungen auch eine Chance in sich tragen, uns zu Wachstum und Veränderung zu etwas Positivem verhelfen können und nichts ohne Grund geschieht – auch wenn sich dieser uns nicht erschließt, wenn wir an etwas Größeres oder Übergeordnetes glauben. Mit so einer Haltung und Einstellung können wir dann besonnen handeln, damit beginnen, wieder aktiv zu werden, unter den Voraussetzungen des derzeitigen Momentes Schritt für Schritt unser Leben positiv zu verändern, zu gestalten und damit in uns ein Gefühl der Wirksamkeit und Selbstwirksamkeit erzeugen – und vielleicht auch rückblickend von uns selbst überrascht festzustellen, welche Kraft und Stärke, welches Durchhaltevermögen, welchen Mut und welche Kreativität wir dabei entwickeln konnten.

Die (hoffentlich) überstandene Corona-Pandemie, der augenblickliche Krieg in unserer Nähe, die bereits lange vorhandenen und sich immer mehr intensivierenden Folgen und Herausforderungen der Klima-Krise zwingt die Menschheit, die Staaten, Wirtschaft und Gesellschaft dazu, die bisherigen als gesetzt und normal geltenden Systeme, Strukturen, Gesetzmäßigkeiten und Verhaltensweisen zu hinterfragen, anzupassen und hoffentlich auch zu einer grundlegenden Neuorientierung, die Albert Einstein vor bereits 100 Jahren stimmig so formuliert hat: „So sehe ich für den Menschen, will er die Zukunft seines Geschlechtes sichern, die einzige Chance darin, dass er zwei ganz einfache Einsichten endlich praktisch beherzigt: dass sein Schicksal mit dem der Mitmenschen in allen Teilen der Erde unlösbar verbunden ist und dass er zur Natur und diese nicht ihm gehört.“

Verzicht auf die Suche im Außen und auf ein verpasstes Leben

Verzicht wird oft mit Askese gleichgesetzt oder man denkt an geizige Menschen, die sich nichts gönnen wollen. Vielleicht auch an Menschen, die sich nichts Leisten können. Dabei ist Verzicht etwas anderes: in erster Linie ist es eine Quelle für Lebensfreude, wenn wir alles, was uns belastet und einbremst ablegen können. So wie wir im „Marie-Kondo-Style“ unsere Wohnung ausmisten und ordentlich halten, so wie wir durch Heil- oder Intervallfasten unseren Körper entschlacken, entgiften und gesund halten – also auch ausmisten und ordentlich halten – genauso dürfen wir unsere Seele und unser Leben ausmisten, entgiften und lebenswert halten. In erster Linie hat das mit uns selbst zu tun und hängt sehr stark mit unserer Einstellung und Haltung zusammen, wie wir uns selbst, den Mitmenschen, den alltäglichen Situationen und Einflüssen, der Umwelt und dem Leben an sich begegnen. Wissen wir es wertzuschätzen, welches Geschenk es ist, dass wir tagtäglich ein besonderes Leben erleben dürfen – und sind wir dankbar dafür? Haben wir die Geduld, die Ausdauer, die Stärke und die Widerstandskraft, auch schwierige, vielleicht auch ausweglos scheinende Situationen zu überstehen – und haben wir Menschen und Ressourcen, die uns dabei unterstützen und an unserer Seite bleiben, wenn alles zusammenzubrechen droht? Haben wir den Willen, den Mut und die Abenteuerlust dazu, an uns selbst zu arbeiten, alles in uns selbst zu hinterfragen und gegebenenfalls abzulegen, was wir bisher ge- und erlebt haben und das uns mehr bremst und blockiert als unterstützt – und die Neugierde auf ein neues, besseres und gesünderes Leben für uns selbst, für unsere Nächsten, für Alle und auch für die Mit- und Umwelt?

Und sind wir uns dessen bewusst, dass wir das nicht alleine machen müssen, sondern ein Coaching oder ein Mentoring das sehr gut unterstützen und fördern kann, damit wir wieder vom Haben zum Sein kommen und wir die Dinge in unserem Leben wiederfinden, auf die es ankommt: Zeit, Ruhe, Raum, Aufmerksamkeit, Sicherheit, Freiheit, Verbindung und Verbundenheit und Bewusstheit für uns selbst, für uns alle, für die Umwelt?

Mahalo! Heinz

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